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Freitag, 30. Januar 2015

Klassentreffen - "ist ja irre"

"Ist ja irre" kommentierte gestern am Telefon ein ehemaliger Geschäftspartner - heute so um die 70 Jahre alt und meistens mehr Freund als Partner -, als ich ihm erzählte, dass ich Anfang Mai eine Reise zu einem Klassentreffen - mit Frauen, Freundinnen oder Partner/innen! - nach Mittenwald plane. "Du bist doch sicher schon über 75?", fragte er. "Etwas darüber, in gut zwei Jahren will ich gerne noch 80 werden". Dann, nach einer kurzen Pause, sagte er: "Du machst es richtig, wer sich im Alter noch Ziele setzt, ist nicht alt."

Da mein alter Kumpel auch immer ein wenig Philosoph war, gebe ich das Lob gerne weiter. An jene Gleichaltrigen, die ebenfalls in diesen Tagen darüber nachdenken, Anfang Mai in den Süden zu düsen. Immerhin leben die meisten von denen, die "übrig geblieben" sind, heute in NRW oder auch nördlich davon. Ausgenommen davon sind die Klassenkameraden "Fidschi", der uns in sein Posthotel nach Mittenwald für drei Tage eingeladen hat, und Rolf, der schon seit Jahren um die Ecke in Österreich lebt. Meine rund 800 Straßenkilometer nach Mittenwald sind kein Problem. Eher wohl die Idee an sich.

Darum hier zur Erinnerung einige Gedanken zu meinem ersten Klassentreffen  - vorher und nachher.

Vor dem Klassentreffen
 
>Es war im Herbst 2011, als ich überraschende Post bekam. Absender war ein ehemaliger Klassenkamerad, mit dem ich von 1949 bis 1955 bis zur „mittleren Reife“ - so hieß das damals wirklich – die Schulbank im Canisianum in Lüdinghausen drücken durfte. Oder besser gesagt: Absender Ado durfte, weil externer Schüler, ich musste, weil interniert. Zusammen mit meinem damaligen Internats-Leidensgenossen Pitt hatte Ado sich die Mühe gemacht, die Namen unseres Reife(haha)-Jahrgangs zu recherchieren und zum Klassentreffen einzuladen. Applaus dafür, auch wenn mich das Ergebnis der Namens-Liste – sogar ergänzt mit einem alten Foto - erst einmal sehr nachdenklich gemacht hat. 39 Namen stehen da, sechs sind verstorben und eben so viele sind nicht auffindbar. Rein statistisch eigentlich noch ein gutes Ergebnis, dachte ich, bevor ich mir die 27 Namen der restlichen und - ich hoffe – noch rüstigen Mitte-Siebziger mal näher angesehen habe. Bis auf drei, höchstens fünf, würde ich sicher niemanden erkennen, wenn er mir heute auf der Straße entgegen kommen würde. Auch dann nicht, wenn mir sogar der eine oder andere Name noch etwas sagt.

Liegt es daran, dass ich den „Kasten“ in Lüdinghausen 57 lange Jahre einfach ausgeblendet habe, weil ich ihn genau so in Erinnerung habe, wie ihn Heinrich Breloer – auch ehemaliger Schüler, nur etwas jünger - in seinem mehrmals ausgezeichneten Doku-Drama geschildert hat? Im Lexikon Wikipedia heißt es zu dem Breloer-Film: „Das Internat ist nach dem Krieg im Wiederaufbau, und die jüngsten der Internatsschüler leben in engen Verhältnissen. Ihr Tagesablauf ist bis ins Kleinste organisiert und geprägt von einer katholischen Erziehung, die Schuld und Sünde in den Vordergrund stellt. Die ehemaligen Schüler sprechen über Erlebnisse, die von Einsamkeit und Bitterkeit geprägt sind.“
 
Wenn ich ehrlich bin, kann und will ich da nicht widersprechen. Warum ich trotzdem im Mai zum Klassentreffen fahre? Weil ich wissen will, wie viele von den 27 überhaupt noch kommen (können). Weil ich glaube, dass ich mich zusammen mit Rolf, vielleicht auch mit Hubert, über die Auszeiten amüsieren kann, in denen wir dem System ab und zu ein Schnippchen geschlagen haben. Weil ich sicher bin, dass Ado und Pitt zusammen mit Wolfgang sich viel Mühe gegeben haben, um das Treffen zum schönen Oldie-Event zu machen. Und natürlich, damit ich demnächst auch all die anderen erkenne, wenn ich ihnen zufällig mal auf der Straße begegne...<
 
Nach dem Klassentreffen
 
>Während der Fahrt zum zweitägigen Klassentreffen nach Münster spukten mir die Buchtitel Internatskerker (Thomas Bernhard), Unterm Rad (Hermann Hesse) und Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (Robert Musil) durch den Kopf. Ich war auf dem Weg zum Treffen mit ehemaligen Mitschülern des katholischen Internats Canisianum Lüdinghausen. Das ist jene Anstalt, über die Heinrich Breloer sein preisgekröntes TV-Doku-Drama gedreht hat. Ehemalige Schüler sprechen im Film über Erlebnisse, die von Einsamkeit und Bitterkeit geprägt sind.
 
 
Was die Titel der Bücher ausdrücken, was Breloer erzählt, konnte ich nachempfinden. 57 Jahre lang fielen mir zum Internat - wenn ich denn überhaupt noch an die Zeit dachte - Vokabeln wie ausgeschlossen und abgeschoben oder ganz real wenig qualifiziertes Aufsichts- und Lehrpersonal bis in die pastorale Spitze hinein ein. Kurz: Ich wollte von diesem Abschnitt meiner Jugend nichts mehr wissen. Bis jetzt, bis zum ersten Treffen seit 1955 in Münster.
 
Um es vorweg zu nehmen: Auf der Rückfahrt dachte ich mehr an Das fliegende Klassenzimmer (Erich Kästner). Auch in diesem Roman gibt es Probleme, aber lösbare. Freundschaft und Kameradschaft der Schüler untereinander sorgen dafür, dass Internatsleben erträglich wird. Ein witzwortreicher Nachmittag und Abend in Münster sowie eine Wanderung durch und rund um die alte Penne in Lüdinghausen am nächsten Tag haben mir die Augen geöffnet. Je mehr Druck auf uns damals ausgeübt wurde, desto mehr haben wir uns zusammengeschlossen. Wir haben Cliquen gebildet, in die keiner hineinkam. Und wenn sich beim Klassentreffen zwei 75jährige nach 57 Jahren plötzlich in den Armen lagen, dann waren das wohl nicht nur Interessengemeinschaften. Kameradschaft, Kumpanei, Freundschaft, daraus bestand der Kitt, der uns damals stark machte.
 
Wenn wir morgens in Zweierreihen durch die Stadt in die Kirche geführt wurden, fanden wir das als Kinder überhaupt nicht - und jetzt beim Klassentreffen überaus komisch. Weil wir erkannt haben, welche verquaste Denkweise damals hinter dem erzkatholischen Trimm stand. Wenn vom Direktor bei einem Mitschüler die Abi-Reife nur deshalb angezweifelt wurde, weil er als Stadtmeister im Tennis mit zwei kurz-berockten Mädchen (!) in der Zeitung abgebildet war, dann löst das heute nur noch ein homerisches Gelächter aus. Wenn vier von uns im Foyer des Internatsgebäudes Stunden mit dem Gesicht zur Wand in vier Ecken stehen mussten, dann ist das aus heutiger Sicht für die damals Betroffenen nicht mehr anprangernd demütigend, sondern nur noch lächerlich. Genau wie der Spruch des Präfekten „aus dir wird nie etwas“. Wäre der Mensch noch am Leben, hätte er beim Klassentreffen feststellen dürfen, dass aus seinen Zöglingen viel mehr geworden ist als sein begrenzter gedanklicher Kosmos es damals wohl zugelassen hat.
 
Alle haben es im Leben weit gebracht, die 16 Oldies mit rund 75 Jahren auf jedem einzelnen Buckel. Aufgeschlossen und weltoffen wurde geplaudert und gelacht, keiner Einziger hatte den Gedanken-Muff des Internats noch in den Knochen. Alleine schon diese Erkenntnis hat mich froh und auch ein wenig glücklich gemacht.  Es war ein schöner Ausflug mit lustigen Kopfreisen durch rund 60 Jahre.< 
 
Mein Fazit: Auch wenn "es irre ist", die Fahrt nach Mittenwald wird sich wohl lohnen, egal wie alt man ist - oder besser - sich fühlt. Bis dann also...

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