Da mein alter Kumpel auch immer ein wenig Philosoph war, gebe ich das Lob gerne weiter. An jene Gleichaltrigen, die ebenfalls in diesen Tagen darüber nachdenken, Anfang Mai in den Süden zu düsen. Immerhin leben die meisten von denen, die "übrig geblieben" sind, heute in NRW oder auch nördlich davon. Ausgenommen davon sind die Klassenkameraden "Fidschi", der uns in sein Posthotel nach Mittenwald für drei Tage eingeladen hat, und Rolf, der schon seit Jahren um die Ecke in Österreich lebt. Meine rund 800 Straßenkilometer nach Mittenwald sind kein Problem. Eher wohl die Idee an sich.
Darum hier zur Erinnerung einige Gedanken zu meinem ersten Klassentreffen - vorher und nachher.
Vor dem Klassentreffen
>Es
war im Herbst 2011, als ich überraschende Post bekam.
Absender war ein ehemaliger Klassenkamerad, mit dem ich von 1949 bis
1955 bis zur „mittleren Reife“ - so hieß das damals wirklich –
die Schulbank im Canisianum in Lüdinghausen drücken durfte. Oder
besser gesagt: Absender Ado durfte, weil externer Schüler, ich
musste, weil interniert. Zusammen mit meinem damaligen
Internats-Leidensgenossen Pitt hatte Ado sich die Mühe gemacht, die
Namen unseres Reife(haha)-Jahrgangs zu recherchieren und zum
Klassentreffen einzuladen. Applaus
dafür, auch wenn mich das Ergebnis der Namens-Liste – sogar
ergänzt mit einem alten Foto - erst einmal sehr nachdenklich gemacht
hat. 39 Namen stehen da, sechs sind verstorben und eben so viele sind
nicht auffindbar. Rein statistisch eigentlich noch ein gutes
Ergebnis, dachte ich, bevor ich mir die 27 Namen der restlichen und -
ich hoffe – noch rüstigen Mitte-Siebziger mal näher angesehen
habe. Bis auf drei, höchstens fünf, würde ich sicher niemanden
erkennen, wenn er mir heute auf der Straße entgegen kommen würde.
Auch dann nicht, wenn mir sogar der eine oder andere Name noch etwas
sagt.
Liegt es daran, dass
ich den „Kasten“ in Lüdinghausen 57 lange Jahre einfach
ausgeblendet habe, weil ich ihn genau so in Erinnerung habe, wie ihn
Heinrich Breloer – auch ehemaliger Schüler, nur etwas jünger - in
seinem mehrmals ausgezeichneten Doku-Drama geschildert hat? Im
Lexikon Wikipedia heißt es zu dem Breloer-Film: „Das
Internat ist nach dem Krieg im Wiederaufbau, und die jüngsten der
Internatsschüler leben in engen Verhältnissen. Ihr Tagesablauf ist
bis ins Kleinste organisiert und geprägt von einer katholischen
Erziehung, die Schuld und Sünde in den Vordergrund stellt. Die
ehemaligen Schüler sprechen über Erlebnisse, die von Einsamkeit und
Bitterkeit geprägt sind.“
Wenn ich ehrlich bin, kann und will ich da nicht widersprechen. Warum ich trotzdem
im Mai zum Klassentreffen fahre? Weil ich wissen will, wie viele von
den 27 überhaupt noch kommen (können). Weil ich glaube, dass ich
mich zusammen mit Rolf, vielleicht auch mit Hubert, über
die Auszeiten amüsieren kann, in denen wir dem System ab und zu ein Schnippchen geschlagen haben. Weil ich sicher bin, dass Ado
und Pitt zusammen mit Wolfgang sich viel Mühe gegeben haben, um das
Treffen zum schönen Oldie-Event zu machen. Und natürlich, damit ich
demnächst auch all die anderen erkenne, wenn ich ihnen zufällig mal
auf der Straße begegne...<
Nach dem Klassentreffen
>Während der Fahrt zum zweitägigen Klassentreffen nach
Münster spukten mir die Buchtitel Internatskerker (Thomas
Bernhard), Unterm Rad (Hermann
Hesse) und Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (Robert
Musil) durch den Kopf. Ich war auf dem Weg zum Treffen mit
ehemaligen Mitschülern des katholischen Internats Canisianum
Lüdinghausen. Das ist jene Anstalt, über
die Heinrich Breloer sein preisgekröntes TV-Doku-Drama gedreht
hat. Ehemalige Schüler sprechen im Film über Erlebnisse, die von
Einsamkeit und Bitterkeit geprägt sind.
Was die Titel der Bücher
ausdrücken, was Breloer erzählt, konnte ich nachempfinden. 57
Jahre lang fielen mir zum Internat - wenn ich denn überhaupt noch an
die Zeit dachte - Vokabeln wie ausgeschlossen und abgeschoben
oder ganz real wenig qualifiziertes Aufsichts- und Lehrpersonal bis
in die pastorale Spitze hinein ein. Kurz: Ich wollte von diesem
Abschnitt meiner Jugend nichts mehr wissen. Bis jetzt, bis zum ersten
Treffen seit 1955 in Münster.
Um es vorweg zu nehmen:
Auf der Rückfahrt dachte ich mehr an Das fliegende Klassenzimmer
(Erich Kästner). Auch in diesem
Roman gibt es Probleme, aber lösbare. Freundschaft und Kameradschaft
der Schüler untereinander sorgen dafür, dass Internatsleben
erträglich wird. Ein witzwortreicher Nachmittag und Abend in
Münster sowie eine Wanderung durch und rund um die alte Penne in
Lüdinghausen am nächsten
Tag haben mir die Augen geöffnet. Je mehr Druck auf uns
damals ausgeübt wurde, desto mehr haben wir uns zusammengeschlossen.
Wir haben Cliquen gebildet, in die keiner hineinkam. Und wenn sich
beim Klassentreffen zwei 75jährige nach 57 Jahren plötzlich in den
Armen lagen, dann waren das wohl nicht nur Interessengemeinschaften.
Kameradschaft, Kumpanei, Freundschaft, daraus bestand der Kitt, der
uns damals stark machte.
Wenn wir morgens in
Zweierreihen durch die Stadt in die Kirche geführt wurden, fanden
wir das als Kinder überhaupt nicht - und jetzt beim Klassentreffen
überaus komisch. Weil wir erkannt haben, welche verquaste Denkweise
damals hinter dem erzkatholischen Trimm stand. Wenn vom Direktor bei
einem Mitschüler die Abi-Reife nur deshalb angezweifelt wurde, weil
er als Stadtmeister im Tennis mit zwei kurz-berockten Mädchen (!) in
der Zeitung abgebildet war, dann löst das heute nur noch ein
homerisches Gelächter aus. Wenn vier von uns im Foyer des
Internatsgebäudes Stunden mit dem Gesicht zur Wand in vier Ecken
stehen mussten, dann ist das aus heutiger Sicht für die damals
Betroffenen nicht mehr anprangernd demütigend, sondern nur noch
lächerlich. Genau wie der Spruch des Präfekten „aus dir wird nie
etwas“. Wäre der Mensch noch am Leben, hätte er beim
Klassentreffen feststellen dürfen, dass aus seinen Zöglingen viel
mehr geworden ist als sein begrenzter gedanklicher Kosmos es damals
wohl zugelassen hat.
Alle haben es im Leben
weit gebracht, die 16 Oldies mit rund 75 Jahren auf jedem einzelnen
Buckel. Aufgeschlossen und weltoffen wurde geplaudert und gelacht,
keiner Einziger hatte den Gedanken-Muff des Internats noch in den
Knochen. Alleine schon diese Erkenntnis hat mich froh und auch ein
wenig glücklich gemacht. Es war ein schöner Ausflug mit lustigen Kopfreisen durch rund
60 Jahre.<
Mein Fazit: Auch wenn "es irre ist", die Fahrt nach Mittenwald wird sich wohl lohnen, egal wie alt man ist - oder besser - sich fühlt. Bis dann also...
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